J. Borchert im Unruhestand

Vom Wert der Familie

Gerechtigkeit – Seit Jahrzehnten kämpft der Darmstädter Jurist Jürgen Borchert dafür, dass Eltern und ihre Kinder im deutschen Sozialstaat nicht mehr die Dummen sind

Mehr als 30 Jahre lang war Jürgen Borchert Sozialrichter in Darmstadt. Jetzt ist er in Pension gegangen und hat noch mehr Zeit für sein Lebensthema – den Kampf für einen familienfreundlichen Staat. Rückschläge sind ihm dabei nur ein neuer Ansporn.

Darmstadt

Der Schreibtisch ist ausgeräumt, der Sekt mit den Kollegen getrunken. Seit ein paar Tagen ist Jürgen Borchert (65) kein Richter mehr am Hessischen Landessozialgericht. Die Leitung seines 6. Senats am Steubenplatz liegt nun in anderen Händen. Das klingt nach verdientem Ruhestand, nach gemütlicher Lektüre auf dem heimischen Sofa oder nach ausgedehnten Urlaubsreisen, die nun kommen könnten.

Nicht so bei Jürgen Borchert. „Ausspannen und Ruhestand ist nichts für mich, jedenfalls jetzt noch nicht.“ Das Ende der beruflichen Pflichten eröffne ihm neue Möglichkeiten, seinen Kampf für die Rechte von Familien noch einmal zu intensivieren.

Sozialpolitiker und Regierungen könnten das als Drohung empfinden. Borcherts neuestes Projekt: die Anzettelung eines „Elternaufstands“ gegen die permanente Benachteiligung der Haushalte mit Kindern im Steuer- und Sozialversicherungssystem.

Wenn Borchert so etwas ankündigt, sind das keine leeren Worte. Er hat in den vergangenen 31 Jahren nicht nur Recht gesprochen in Darmstadt. Drei Mal gelang es ihm, Fragen bis zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe zu tragen. Es ist keine Übertreibung: Borcherts Hartnäckigkeit hat den Sozialstaat ein bisschen gerechter gemacht – auch wenn er selbst mit dem erreichten Zustand alles andere als zufrieden ist.

Was treibt den Vater zweier erwachsener Töchter an? „Ich selbst hatte eine außerordentlich glückliche Kindheit; das verpflichtet“, sagt Borchert, der 1949 in Gießen auf die Welt kam. Seine Jugend führte ihn mit 17 für ein Jahr in die USA, im geschichtsträchtigen Mai 1968 legte er das Abitur ab, entschied sich danach für ein Jura-Studium. Nach dem Examen blieb Borchert als Assistent in Berlin. Inzwischen Vater und Ehemann, lebte er mit Frau und Kind in einer Wohngemeinschaft, betreute ehrenamtlich schwer erziehbare Jugendliche, Strafgefangene und psychisch Kranke. „Dabei habe ich bald gemerkt, wie wichtig es ist, sich im Sozialrecht auszukennen.“

Der zentrale Fehler im System


In Berlin stieß der junge Jurist auch auf das Thema, das ihn nicht mehr losließ: die Benachteiligung der Familien im Sozialstaat. Bei der Beschäftigung mit der Rentenreform von 1957 wurde Borchert auf einen bestürzenden Aspekt aufmerksam: Mit dieser Reform, die Millionen Ruheständlern ein ordentliches Auskommen bescherte, wurde ein zentraler Fehler in das System eingebaut. Bei der Bemessung der Beiträge fiel die Leistung der Kindererziehung nämlich unter den Tisch.

Das aber, so Borchert, führe dazu, dass Familien doppelt betrogen werden. Wegen der Erziehung ihrer Kinder seien sie zumindest zeitweise von der Lohnarbeit ausgeschlossen, erwerben also weniger Rentenansprüche. „Und ihre Kinder finanzieren die Renten jener, die kinderlos geblieben sind und keinen Beitrag zum Generationenvertrag geleistet haben.“

Dieser Webfehler ist bis heute nicht behoben, er zieht sich – von minimalen Ausnahmen abgesehen – durch alle Zweige der Sozialversicherung.

Das Steuerrecht verschärft die Schieflage noch. Beispiel Rente: Der Bundeszuschuss – mehr als 80 Milliarden Euro im Jahr – wird überwiegend aus indirekten Steuern finanziert, etwa der Mehrwertsteuer. Damit tragen jene in besonderem Maße zur Finanzierung des Systems bei, die ihr Einkommen größtenteils verbrauchen und nicht sparen. Und das sind? Richtig, die Familien.

1981 hat Borchert über das Thema promoviert. Seine Doktorarbeit mit dem Titel „Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung“ von 1981 gilt noch immer als Standardwerk. Die zentrale Aussage: In der Alterssicherung müssen Lohnarbeit und Kindererziehung gleich viel wert sein. Wer Kinder großzieht und damit die Renten der künftigen Generation sichert, leistet für das System mindestens so viel wie jeder Beitragszahler.

Warum aber entschied sich Borchert für den Beruf des Richters? Dieser hat die Aufgabe, als neutrale Instanz Recht zu sprechen. Mit dem Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, ist das nicht immer in Einklang zu bringen. „Es war der private Konflikt mit den Anforderungen einer jungen Familie“, sagt Borchert. Er habe in Berlin eine sehr erfolgreiche Arbeitsrechtskanzlei geführt. „Das hat mich aufgefressen. Im Richterberuf hat man zwar auch viel zu tun, aber man genießt eine absolute Zeitautonomie – ideal für die Familie.“

Wie sehr die eigene Familie von der neu gewonnenen Autonomie profitierte, bleibt ein Geheimnis. Borchert begnügte sich jedenfalls nicht mit seinem Richterjob. Parallel etablierte er sich als Politikberater. 2002 wechselte er für ein halbes Jahr in die hessische Staatskanzlei, um für den damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) ein familienpolitisches Konzept zu erarbeiten. Viele seiner aus dem linken Spektrum stammenden Freunde hätten ihm das damals verübelt, erinnert sich Borchert. Doch die Möglichkeit, den Ministerialapparat für seine Zwecke zu nutzen, sei zu verlockend gewesen. Borchert schrieb Expertisen, organisierte einen Kongress. Gesetze wurden daraus nicht. Borcherts Ideen machten Furore – und wurden abgeheftet.

350 Mark für Mutter mit neun Kindern


Für den Deutschen Familienverband hatte Borchert Jahre zuvor eine Verfassungsbeschwerde erarbeitet, mit der die Ungerechtigkeit des Rentensystems entlarvt werden sollte. So kam der Fall von Rosa Rees nach Karlsruhe. Sie hatte neun Kinder großgezogen, die jeden Monat mehr als 15 000 Mark in die Rentenkasse einzahlten, während die Mutter von 350 Mark Rente leben musste.

Das Ergebnis war das „Trümmerfrauenurteil“ vom 7. Juli 1992. Die Richter folgten zwar nicht der Forderung der Kläger, dass Kindererziehung und Lohnarbeit für die Rente gleichwertig seien. Aber sie trugen dem Gesetzgeber auf, „mit jedem Gesetzgebungsschritt“ das System familiengerechter zu machen. Daraus entstanden die
„Babyjahre“ für die älteren Mütter, durch die ihre Kindererziehungszeiten ein bisschen zur Rente beitragen.

Am 3. April 2001 sprach Karlsruhe sein Urteil zur Pflegeversicherung, das zurückging auf eine Verfassungsbeschwerde von 1994, an der Borchert ebenfalls mitgewirkt hatte. Für den jüngsten Zweig der Sozialversicherung hatte das höchste deutsche Gericht die Kindererziehung „erstmals als konstituierende Leistung“ anerkannt. Heute ist die Pflegeversicherung das einzige Sicherungssystem, in dem Kinderlose höhere Beiträge zahlen als Eltern.

Im Jahr 2010 schaffte es Borchert ein drittes Mal nach Karlsruhe. Das Hartz-IV-Urteil, mit dem das Verfassungsgericht die Politik zwang, die Regelsätze für Erwachsene wie Kinder neu zu berechnen, geht auf einen Fall zurück, den er in Darmstadt auf den Tisch bekam und zum Anlass nahm, die Praxis unter die Lupe zu nehmen. Das Gericht folgte der Argumentation des Darmstädter Senats, dass die Berechnung der Hartz-IV-Sätze ohne plausible Datenbasis erfolge und überdies am Parlament vorbei festgelegt werde.

Dennoch wurden die Hartz-IV-Sätze in der Folge nur sehr moderat angehoben. Laut Borchert sind sie deshalb weiterhin nicht bedarfsgerecht. In Karlsruhe Recht zu bekommen, sei eben das Eine; die Umsetzung der Urteile das Andere. Immer wieder komme es in familienpolitischen Fragen vor, „dass die Politik das Verfassungsgericht einfach ignoriert“, merkt Borchert bitter an. Aber fördert der Staat die Familien nicht jedes Jahr mit einem dreistelligen Milliardenbetrag? Und hat die Große Koalition nicht gerade die Mütterrente für ältere Jahrgänge eingeführt? Beides lässt Borchert nicht gelten. Die wahre Ursache des „Familiendramas“ in Deutschland sei doch, „dass wir den Staat zu über 70 Prozent aus Abgaben finanzieren, die vor allem die ärmeren und mittleren Einkommensschichten aufbringen“. Will sagen: Letztlich bezahlen die Familien ihre Förderung selbst.

„Elternaufstand“ soll für Druck sorgen


Das gelte auch für die Mütterrente. Borchert nennt sie ein „übles Hütchenspiel“. Sie werde nämlich letztlich aus Bundeszuschüssen für die Rentenversicherung gespeist, die seit vielen Jahren für die Begleichung von Erziehungsansprüchen eingezahlt würden, bisher aber einfach in die allgemeine Rentenfinanzierung geflossen seien. Da überrascht es kaum noch, dass diese Milliarden aus der Mehrwertsteuer kommen – also nach Borcherts Definition überwiegend von den Familien selbst.

Die Folge dieser Politik: die Halbierung der Geburtenzahl in den vergangenen Jahrzehnten bei sprunghaft gestiegener Kinderarmut. Für ein hoch entwickeltes Land sei das „unwürdig“, sagt Borchert. Resignation wäre jedoch die falsche Antwort darauf. Borchert glaubt nach wie vor an die Reformierbarkeit des Sozialstaats, und seine Lust auf Attacke ist mit den Jahren eher noch gestiegen. Mehrere Bücher hat er zum Thema veröffentlicht, zuletzt einen Band mit dem Titel „Sozialstaatsdämmerung“. 2011 wurde er für sein Engagement mit dem Regine-Hildebrandt-Preis für Solidarität geehrt.

Nun also die Anstiftung zum „Elternaufstand“. Gemeinsam mit Familienverbänden will Borchert ein neues Bündnis schmieden, an der Politiker und Gerichte nicht mehr vorbeikommen. Eine „knackige Aufklärungsbroschüre“ sei in Arbeit. In ihr will Borchert darstellen, „wie der Staat eine Durchschnittsfamilie um 2500 Euro pro Jahr und Kind betrügt“.

Die Kampagne zielt auf ein Musterverfahren beim Bundessozialgericht in Kassel, das wohl im Herbst 2015 entschieden wird. Auch diesen Fall will Borchert bis nach Karlsruhe tragen. Er erhofft sich ein neues Urteil – „und zwar diesmal mit einem so klaren Auftrag, dass der Gesetzgeber sich nicht mehr drücken kann“.

Dafür ackert Borchert nun. Er will wieder als Anwalt arbeiten, außerdem verspricht er eine „mediale Offensive“. Die Betroffenen selbst müssten endlich für gesellschaftlichen Druck sorgen. Mit guten juristischen Argumenten allein komme man auch in Karlsruhe nicht automatisch ans Ziel.

Für ein normales Pensionärsdasein bleibt da keine Zeit. Seine drei Enkel werde er fortan jedoch öfter in die Arme schließen können, hat Borchert seiner Familie versprochen. Und auch ein paar Bergtouren sind für nächstes Jahr fest eingeplant.

Quelle: Echo online, Region Darmstadt, ART 1231,5755118

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